Die Macht der Bewegung

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Ein Artikel von Barbara Eisenbeiss im MUSEION 2000 vom Juni 1996, Seite 34.
Ein sehr langer Beitrag, aber ich finde, es ist wirklich wert, Alles zu lesen. Schade dass wir uns heutzutage viel zu wenig mit dem Thema befassen.
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Bewegung bedeutet Leben. Sie ist für jedes Lebewesen die Voraussetzung, um sich in der Welt besser zu manifestieren, sie vermehrt wahrzunehmen, zu erfahren und wirkungsvoller in sie einzugreifen. Ohne Bewegung gibt es weder Entfaltung noch Entwicklung. Sie ist das Gegenteil von Stillstand und Tod. Nicht von ungefähr pries einst der israelitische König Salomo die personifizierte Weisheit, die er als »Werkmeisterin aller Dinge« erkannte, mit den Worten: »Die Weisheit ist beweglicher als jede Bewegung.« (Weish. 7, 24.)

Körperbewegungen offenbaren das Innenleben eines Menschen. Hier zeigt es sich, ob jemand zum Guten wirkt, ob er aufbaut, hegt und pflegt oder ob er niederreißt, zerstört und sich und seiner Umwelt zum Schaden gereicht. Körperbewegungen sind ganz allgemein der Ausdruck der inneren Haltung und des Geistes. Sie offenbaren die momentane Gefühlsverfassung; keine Bewegung ist zufällig, sondern jede ist die Folge bewußten oder unbewußten Denkens und des inneren Antriebs. Unwillkürlich, ohne bewußtes Zutun, laufen die vielfältigsten Bewegungen ab und geben Zeugnis davon, was den Menschen bewegt und wie er sich fühlt.

Man beachte einmal, wie viele Gesten man täglich unbewußt vollführt: Man räkelt sich aus Behaglichkeit, man schüttelt sich bei einem abstoßenden Gedanken oder Anblick, kratzt sich aus Verlegenheit, tippt bei Nervosität oder Ungeduld mit den Fingern, kaut an den Nägeln, wippt mit einem Fuß aus Unruhe, spielt im Gespräch oder beim Zuhören mit einem Gegenstand, streicht sich aus Unsicherheit die Haare aus dem Gesicht usw. Wie die Verhaltensforschung nachweisen konnte, führt eine positive Erregung, sei es Freude oder Wohlbehagen, zu vermehrter Bewegung, beispielsweise zu mehr Gestik beim Sprechen; negative Erregungen dagegen, Zorn oder Ärger, vermindern die Gesten, lassen verstocken, Angst lähmt, und Schreck lässt erstarren.

Die innere Haltung ist es, die weitgehend bestimmt, auf welche Art und Weise sich jemand bewegt. Neben genetischem Erbe und äußeren Faktoren, wie Krankheiten oder ein anerzogenes Bewegungsmuster, prägt zum großen Teil der Charakter das Bewegungsverhalten: In den Bewegungen kommt das Temperament eines Menschen zum Ausdruck, sein Naturell und seine Gesinnung. Es zeigt sich, wie er denkt und welche Einstellung er zu sich und zu anderem Leben einnimmt. Eigenschaften wie Bescheidenheit, geistige Beweglichkeit oder Lebensfreude sind für ein geschultes Auge am Bewegungsverhalten ebenso zu erkennen wie chronisches Misstrauen, Unsicherheit, Hochmut oder Sturheit. Jeder Mensch hat demnach auf Grund seiner Persönlichkeit ein einzigartiges, charakteristisches Bewegungsverhalten.

Seine Individualität lässt sich mitunter bereits an einer einzigen Bewegung, beispielsweise an einem Armheben, erkennen: Veranlasst man nämlich mehrere Menschen, eine solche Bewegung auszuführen, so zeigt sich, wie jeder sie ein bisschen anders ausführt: Der eine macht sie schnell und zielstrebig, ein anderer zackig, abrupt, wieder ein anderer konzentriert und langsam, ein weiterer weich und rund, ein anderer eckig, ungelenk oder unsicher, wieder ein anderer schwerfällig usw.

Wie eng der individuelle Geist mit dem Körper verbunden ist und sich auf diesen auswirkt, zeigt sich vielleicht am deutlichsten bei seelischen Verletzungen: Demütigungen und Kränkungen drücken nicht nur die Seele nieder, sondern auch den Körper. Ein Mensch, der ständig in seinem Selbstwertgefühl herabgewürdigt wird, wird körperlich eine dementsprechende Haltung einnehmen; seine Bewegungen wirken befangen, und es fehlt ihnen an Gelöstheit und Harmonie. Bemerkenswerterweise gilt in der Psychologie und Psychiatrie auffälliges, abnormes Bewegungsverhalten als ein erstes und sicheres Zeichen einer seelischen Krankheit.

Eine Änderung des Denkens und des inneren Antriebs bewirkt eine Änderung des Bewegungsverhaltens

Wer sich einmal an ein bestimmtes Bewegungsverhalten gewöhnt hat, hält oft ein Leben lang daran fest. Muskeln, die über eine längere Zeit in einer gewissen Haltung verharren, prägen sich dieses Muster ein und ändern es nicht ohne Veranlassung. So behält zum Beispiel eine Person, die längere Zeit unter Depressionen litt, in der Regel die niedergedrückte, hoffnungslose Haltung noch lange bei, die typisch für diese Krankheit ist. Sie wurde ihr zur zweiten Natur, und selbst nach ihrer Genesung erinnert ihr Körper an diese unglückliche Zeit.

Wie sehr sich die Muskulatur an ein gewisses Bewegungsschema gewöhnen kann, zeigen vielleicht jene Muskeln am deutlichsten, die für das Sprechen zuständig sind: Beim Erlernen der Muttersprache werden diese Muskeln so sehr geprägt, dass man kaum je eine Fremdsprache akzentfrei aussprechen kann; gewisse Laute auszusprechen ist einem sogar unmöglich.

Der Mensch ist aber lernfähig; er muss sich nicht einfach mit einem einmal angewöhnten Bewegungsverhalten abfinden. Er besitzt die Möglichkeit, durch bewußtes und wiederholtes Üben eine Änderung zu erzielen. Er hat die Fähigkeit, seine die Bewegung veranlassenden inneren Antriebe zu ändern. Entscheidend ist die Änderung in der inneren Grundhaltung, im Denken und im Selbstverständnis. Gelingt es beispielsweise, einem unsicheren, gehemmten Menschen zu mehr Selbstwertgefühl zu verhelfen, wird er sich mit der Zeit auch freier und gelöster bewegen lernen.

Die Auswirkungen von Bewusstseinsänderungen werden vor allem in der erfolgreichen Psychotherapie beispielsweise an schizophrenen Menschen beobachtet: Untersuchungen belegen, wie Bewegungen, die von den Kranken zuvor unkoordiniert, steif, eckig, fahrig und unharmonisch ausgeführt wurden, im Verlauf der Therapie weicher und runder werden und an bizarrer Auffälligkeit verlieren.

Ähnliches gilt für die Behandlung von Depressiven: Waren ihre Bewegungen zuvor kraftlos, monoton, ausdrucksarm und schwerfällig, so gewinnen sie durch eine positive Änderung der seelischen Haltung an Lebendigkeit und Ausdruckskraft.
Eine Änderung des Bewusstseins und des Denkens ist generell auch dann anzustreben, wenn ein Bewegungsverhalten körperliches Unbehagen verursacht – also in jenen Fällen, in denen ein gestörtes seelisches Gleichgewicht sich negativ auf den Körper auswirkt und beispielsweise zu schmerzenden Muskelverspannungen und Verkrampfungen führt.

Ist der umgekehrte Fall möglich?

Die Möglichkeit, mit einer Änderung des Denkens das Bewegungsverhalten ändern zu können, wirft die Frage auf, ob nicht auch der umgekehrte Fall möglich wäre: ob nicht durch ein bestimmtes Bewegungsverhalten der Geist und sein Denken beeinflusst werden könnte, also eine Wechselwirkung besteht – so beispielsweise, ob das bewusste Einüben von weichen, ruhigen Bewegungen einen hektischen und nervösen Menschen zur Ruhe bringen oder ob das Einnehmen einer bescheidenen Körperhaltung einen anmaßenden Menschen zu mehr Bescheidenheit veranlassen könnte.

Im Gegensatz zu anderen, beispielsweise asiatischen Kulturen, in denen die Beschäftigung mit Bewegungsübungen und ihren Auswirkungen auf den Geist zum Alltag gehört und auf eine jahrtausendealte Tradition zurückblickt, nimmt man sich in unserem Kulturkreis dieses Themas eher wenig an. Bewegung wird bei uns im allgemeinen bloß als ein Mittel angesehen, um Bedürfnisse zu befriedigen, um materielle Ziele zu erreichen oder höchstens noch als ein Mittel, den Körper gesund zu erhalten.

Dies ist jedoch eine sehr eingeschränkte Betrachtungsweise. Setzt man sich mit Bewegung intensiver auseinander, so zeigt sich, dass sie eine wirkungsvolle Macht auf den Menschen ausübt, der man sich in der Regel viel zu nicht bewusst ist: Bewegungen sind tatsächlich in der Lage, das Gemüt zu beeinflussen, Gefühle hervorzurufen und sogar die seelische Grundhaltung des Menschen zu prägen. Diese Wirkkraft des Körpers auf das Innenleben zu kennen ist wertvoll und tut not. Zum einen macht es die Möglichkeiten bewusst, wie man diese Kraft zum eigenen Wohl und zum Wohl des Nächsten nutzen kann zum anderen zeigt es, wo und in welchen Fällen diese Kraft missbraucht wird und sie einer geistigen Entfaltung entgegenwirkt.

Die Wirkkraft der Bewegung

Der Einfluss des Körpers auf den Geist lässt sich durch ein einfaches Experiment leicht am eigenen Körper feststellen: Spannt man die Muskeln an, beißt fest auf die Zähne, presst voller Konzentration und mit aller Kraft die Hände ineinander, dann wird sich unweigerlich auch im Inneren eine gespannte Haltung einstellen, und der Schritt zu einer aggressiven Stimmung ist nicht mehr groß.

Auf diesem Prinzip beruht beispielsweise der militärische Drill mit seinem Einüben ganz bestimmter Bewegungsmuster und -abläufe. Schneidige Bewegungen oder zackiges Marschieren in Reih und Glied sind nicht einfach nur ein Imponiergehabe, mit dessen Hilfe ein Feind eingeschüchtert werden soll. Sondern dies alles hat ebenso das Ziel, das Gemüt der Soldaten zu beeinflussen: Der zackige Schneid soll ein Gefühl von Härte und Überlegenheit auslösen, er soll Mut geben und die Überzeugung von Macht und Unbesiegbarkeit vermitteln.

Die Gleichschaltung in der Masse und das von außen aufgezwungene Bewegungsverhalten dienen zugleich der Beeinflussung des freien Denkens: Wer in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt und in ein Schema gepresst wird, hört bis zu einem gewissen Grad auf, er selbst zu sein und selbständig zu urteilen; er wird Teil der gleichgeschalteten Masse und überlässt letztlich die Verantwortung für sein Denken und Handeln den Befehlshabern.

Ein anderes Beispiel dafür, wie die Macht der Bewegung benutzt wurde und in verschiedenen Gesellschaften immer noch benutzt wird, um Mitmenschen in ihrem Denken und ihrem Selbstverständnis zu beeinflussen, ist das von Obrigkeiten geforderte Demutsverhalten ihrer Untertanen. Die Pflicht, sich vor den Herrschaften unterwürfig zu geben, das heisst, sie mit Kniefall zu begrüßen und sich in ihrer Gegenwart möglichst klein und bedeutungslos zu machen, soll den Betroffenen in Fleisch und Blut übergehen und in ihnen die Meinung hervorrufen, tatsächlich von niedrigerem Stand und Wert zu sein. Die extremste Unterwerfungsgeste ist die Prostration, das Sichhinstrecken auf den Boden.

Diese krasse Erniedrigung forderten vor allem orientalische Herrscher; heute kennt sie unter anderem noch die katholische Kirche bei der Weihe der Priester und Bischöfe – erstere vor dem Bischof, letztere vor dem Papst.
Die gezielte Ausnutzung von Bewegungen oder Bewegungsabläufen zur Beeinflussung des Geistes wird gerade im religiösen Bereich häufig praktiziert: In verschiedenen Kulten dienen monotone, rhythmische Bewegungen dazu, in Trance zu gelangen. So versetzen sich sogenannte Derwische, Angehörige eines islamischen Ordens, durch rhythmische Tänze in Ekstase. Ähnliches kennen wir von Anhängern von Voodou-Kulten, die sich ebenfalls durch rhythmische Bewegungen in einen anderen Bewusstseinszustand wiegen.

Grosse Auswirkungen auf die innere Haltung kann auch die gezielte Einschränkung der Bewegungsfreiheit haben, wie sie beispielsweise im alten China in Adelsfamilien praktiziert wurde: Den Mädchen wurden bereits in jungen Jahren die Füße so fest einbandagiert, dass diese klein blieben und verkrüppelten. Die betroffenen Mädchen und Frauen konnten ein Leben lang kaum gehen und mussten von Dienstboten umhergetragen werden.

Das angebliche Schönheitsideal hatte im Grunde genommen keine andere Absicht, als die Frau an das Haus und an ihren Gatten zu binden – und zwar sowohl körperlich als auch geistig; denn die kleinen, schmerzenden Stümpfe schränkten wirksam jede natürliche Regung nach Unabhängigkeit und Entfaltung ein, und eine Frau mit winzigen Füßen wurde eigentlich nur als ein materieller Besitz des Mannes angesehen.
Einen grossen Einfluss auf den Geist kann auch die Unterdrückung von Bewegung, die erzwungene Bewegungslosigkeit, nehmen. Das von Wachsoldaten geforderte stundenlange Strammstehen hat nicht zuletzt die Absicht, im Betroffenen eine Haltung völliger Ergebenheit hervorzurufen; der Soldat hat jede eigene Bewegung zu unterlassen und mit Leib und Seele auf Gedeih und Verderb zur Verfügung zu stehen.

Absolute Bewegungslosigkeit, stundenlanges stilles Verharren wird auch in einzelnen Sekten praktiziert. Wie ehemalige Mitglieder berichten, hat die Praktik nichts mit einem vernünftigen meditativen Sichverinnerlichen zu tun, sondern wurde von ihnen als ein Psychoterror empfunden, der in ihnen Wahnvorstellungen und Ängste weckte. Solche regelmäßig geforderte, unfreiwillige Regungslosigkeit stumpft den Geist ab und kann den Verlust jeglicher geistigen und körperlichen Spontaneität und Vitalität bewirken.

Unfreiwillige Bewegungslosigkeit bedeutet für einen Menschen einen unbeschreiblichen psychischen Streß. Nicht von ungefähr gilt es als Folter, einen Menschen so zu binden oder einzusperren, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Es sind weniger die körperlichen Schmerzen, die das Opfer quälen, sondern vor allem das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, gänzlich wehrlos dem Peiniger oder einer Situation ausgeliefert zu sein. Allein schon die Vorstellung, sich nicht mehr bewegen zu können, beispielsweise unter einer Lawine verschüttet zu sein, berührt höchst unangenehm.

Folgenschwer für den Geist und seine Entwicklung erweist sich das in vielen Ländern bis heute praktizierte Einbinden der Säuglinge. Um die Kleinen ruhigzustellen, werden sie wie kleine Mumien fest gewickelt, und es wird ihnen dadurch jegliche Bewegungsfreiheit genommen. Es erstaunt nicht, dass diese Unsitte vor allem in rückständigen und diktatorischen Ländern verbreitet ist. Was sie für die Persönlichkeit des betroffenen Kindes bedeuten kann, wird an Hand des folgenden Kapitels deutlich.

Frühkindliche Bewegungsentwicklung

Neben den vielen Fällen, in denen die Macht der Bewegung zur Manipulation von Mitmenschen mißbraucht wurde und zum Teil noch immer wird, bestehen auch vielfältige Möglichkeiten, den Einfluss des Körpers auf den Geist im Positiven zu nutzen und zum Wohl des Menschen einzusetzen.

Im linken Teil des Bildes werden drei Babys gezeigt, die fest verschnürt und fast bewegungsunfähig auf einer Decke liegen.
Im rechten Teil liegt eine tote alte Frau verschnürt in einem Leichentuch. Um die Tote trauernde Frauen sind zu sehen.
Eingebunden von der Geburt bis in den Tod. Die in Rußland, China oder Kosovo (Abb. links) verbreitete monatelange Einschnürung von Säuglingen unterbindet deren freie geistige und körperliche Entwicklung. Von klein auf seiner Eigenständigkeit beraubt, kann ein Mensch sodann um so leichter mit anderen gleichgeschaltet und dazu angehalten werden, sogar in persönlichsten Bereichen wie denjenigen des Glaubens und des Gefühls starre Rituale einzuhalten und Dogmen zu befolgen.

In der Psychologie hat man in den letzten Jahrzehnten die besondere Bedeutung der Bewegung für die geistige Entwicklung des Säuglings und des Kleinkindes erkannt. Es wurde gesehen, welchen entscheidenden Einfluss die Bewegung auf dessen Persönlichkeitsentfaltung und Entwicklung zur Selbständigkeit ausübt In den ersten Lebensmonaten und -jahren ist sie ein wichtiges Erfahrungs- und Ausdrucksmittel des Kindes.
Einem Säugling ist die Beherrschung und Kontrolle des aktiven Bewegungsapparats nicht in die Wiege gelegt. Sein selbstbewusster Geist muss erst lernen, sich auf den individuellen Leib einzuspielen und dessen Muskeln seinem Willen zu unterstellen.

Dazu ist stetes Üben erforderlich: Zuerst hebt das Kleinkind durch geordnetes Zusammenspiel der Halsmuskulatur den Kopf, dann mit den Armmuskeln die Schultern, schliesslich den gesamten Körper. Ohne Beherrschung der Rücken-, Becken- und Beinmuskulatur wäre Stehen und Gehen unmöglich. Das Lernen des scheinbar so einfachen Gehens braucht seine Zeit, denn eine Vielzahl von Muskeln müssen hierzu koordiniert werden. Jeder Muskel kann seiner bestimmten Funktion nur gerecht werden, wenn er in einer fließenden Synchronisation mit anderen Muskeln arbeitet.

Die Motorik ist für die Gesamtentwicklung der Persönlichkeit vor allem insofern bedeutungsvoll, als das Kleinkind durch Bewegungen schon früh eigene Kompetenzen erwerben und Eigenständigkeit entfalten kann. Durch die Bewegung kann es die Umwelt besser wahrnehmen und umfassender erleben, kann es sich mit ihr (erst) auseinandersetzen und Umweltereignisse durch eigenständiges Handeln hervorrufen und beeinflussen.

Durch die Bewegung gewinnt das Kleinkind also die ersten Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse, die sein Selbstbewußtsein und seine Persönlichkeit prägen. Damit es diese für seine Gesamtentwicklung wichtigen Erfahrungen gewinnen kann, raten Pädagogen, ihm genügend Bewegungsraum und anregende Gegenstände zur Verfügung zu stellen. Erzieher und Eltern sollten für abwechslungsreiche Bewegungslandschaften sorgen und das Kind ungestört tätig werden lassen; man solle ihm nicht dauernd helfen oder ‘Tricks’ zeigen. Ein gesundes Kind ist in der Regel unermüdlich, wenn es etwas erreichen möchte. Erreicht es etwas ohne fremde Hilfe, beispielsweise auf einen Stuhl zu klettern, so ist sein Stolz und sein Erfolgserlebnis bedeutend größer. Durch solche positiven Bewegungserfahrungen wachsen Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl.

In vielen Kinderkrippen und Kindergärten gibt man sich Mühe, auf diese Erkenntnisse der Pädagogik einzugehen und Bewegungsförderung gezielt im Hinblick auf die geistige Entwicklung der Kinder einzusetzen. An den meisten Schulen wird Bewegungsförderung oder -schulung aber immer noch einseitig als körperliche Ertüchtigung verstanden und daher zum Sportunterricht gezählt.

Bewegungsschulung im antiken Griechenland

Anders sah dies im antiken Griechenland aus. Bewegungsschulung war hier ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung und des Unterrichts aller Altersstufen und hatte das Ziel, die körperliche und seelische Entwicklung zu fördern.
Wie aus antiken Werken, so beispielsweise bei Platon und Sappho, zu entnehmen ist, betrachtete man im ionischen Griechenland Gymnastik und Tanz als ein Mittel zur Bildung des Charakters. Man hatte erkannt, dass Kleinkinder einen angeborenen Drang nach tanzähnlichen Bewegungen haben, und man wertete dies als eine unbewußte Form des Sichausdrückens, als eine Sprache der Emotionen, die es zu verstehen und zu pflegen galt.

Eine erste Aufgabe der Bewegungsschulung war es demnach, diesen Bewegungsdrang der Kinder zu kultivieren und ihre spontane Ausdruckskraft zu stärken. Sie sollten lernen, das, was sie innerlich bewegt, auch ohne Worte also allein durch Bewegung – ihrer Umwelt mitteilen zu können. Ein weiterer Schritt der Ausbildung bestand darin, den Kindern die Prinzipien bewusst zu machen, die in den Bewegungen herrschen. Es ging darum, die Beziehungen zwischen innerer Bewegungsmotivation und äußerem Körpergeschehen zu erforschen und zu verstehen. Sie sollten erkennen lernen, welcher innere Antrieb welche Stimmung oder welche seelische Haltung – einer einzelnen Bewegung oder einem Bewegungsverhalten zugrunde liegt.

So wurde beispielsweise das Bewegungsverhalten verschiedenster Charaktere studiert und in Tanz und Pantomime wiedergegeben. Die Schüler sollten sich in Menschen und in Situationen einfühlen lernen und durch Bewegungen charakteristische Emotionen zum Ausdruck bringen können. Auf diese Weise wurde den Kindern die Aussagekraft der Körperbewegung – der Körpersprache – bewusst.

Gleichzeitig wurde dadurch das Auge für die Wahrhaftigkeit von Bewegungen geschult. An Hand der Körperbewegungen wird nämlich ersichtlich, ob ein Mensch etwas verbirgt oder lügt. Wer nichts vorzutäuschen hat, dessen Bewegungen stehen in Harmonie zueinander; denn ganz gleich, welcher Körperteil im Konzert des Bewegungsablaufs die Solostimme übernimmt, der übrige Körper folgt dem gesetzten Akzent bruchlos.

Die Körpersprache stellt ein ganzheitliches System dar. Es ist nicht möglich, dass einzelne Körperteile beispielsweise Zufriedenheit signalisieren und andere Gereiztheit – es sei denn, dass etwas mit der Aussage nicht stimmt: Wer mit einem ‘süssen’ Lächeln »Sei gegrüsst, lieber Freund« sagt, jedoch denkt: >>Dich zu sehen hat mir gerade noch gefehlt!«, zeigt durch seinen Körper, durch seine steife, ablehnende Haltung seine wahre Meinung und sein wirkliches Gefühl.

Zum Bewegungsunterricht ionischer Kinder gehörte es also, den Blick für einen harmonischen und für einen gestörten Bewegungsfluss zu schulen. Dies sollte sie lehren, sich vor unliebsamen Überraschungen und Enttäuschungen zu schützen, aber auch, sich der Aussagekraft der eigenen Bewegungen bewusst zu werden. Sie sollten nicht nur am Mitmenschen, sondern gerade auch bei sich selbst prüfen, ob eine Einheit herrscht zwischen Reden, Denken und den Bewegungen des Körpers.

Ein weiteres wichtiges Anliegen des Gymnastik- und Tanzunterrichts war es, Charakterschwächen durch gezielte Bewegungsübungen entgegenzuwirken. In tänzerischen Rollenspielen wurden jene Bewegungsmuster einstudiert und geübt, denen wünschenswerte seelische Antriebe zugrunde lagen; das heisst, es wurden je nach Situation Tugenden wie Bescheidenheit, Opferbereitschaft, Aufrichtigkeit oder Tapferkeit in tänzerischer Form ausgedrückt.

Durch konzentriertes, mehrmaliges Wiederholen solcher Bewegungsabläufe sollten diese verinnerlicht werden und die Seele bewegen. Zur positiven Beeinflussung der seelischen Haltung wurden solche Tänze in Verbindung mit Musik eingeübt, deren Rhythmus und Melodie auf die jeweiligen, den Bewegungen zugrundeliegenden Gefühle abgestimmt waren. Ein solcher Tanz bot ein geordnetes Zusammenspiel der geistigen, emotionalen und körperlichen Kräfte.

Tänzerisches Einüben wünschenswerter Antriebe kannten freilich nicht nur die Ionier. Mehr oder weniger wurde dies von allen Völkern bewusst oder unbewußt praktiziert, wie dies in ihren Stammes- und Nationaltänzen zum Ausdruck kommt. Was die Ionier und die mit ihnen verwandten hellenischen Stämme von anderen unterscheidet, ist, dass sie ihren Tänzen und Bewegungsübungen höchste ethische Maßstäbe zugrunde legten und damit ihr Streben nach dem Wahren, Guten und Schönen ausdrückten.

An einem Volkstanz zeigt es sich, welcher Bereich inneren Antriebs von der entsprechenden Volksgruppe besonders gepflegt wird. Der dynamisch-kriegerische Tanz afrikanischer Massai-Krieger, der sinnlich-träge und träumerische Tanz des Orientalen, der stolze, kühne Tanz des Spaniers, der temperamentvolle Tanz des Süd-Italieners oder der gemessene Rundtanz des Angelsachsen sind Beispiele für Antriebsmanifestationen, die im Laufe der Geschichte ausgewählt und gepflegt wurden, bis sie schliesslich als Ausdruck der Mentalität der jeweiligen sozialen Gemeinschaft für bewahrens- und erstrebenswert galten. Solche Tänze waren früher eines der wichtigsten Mittel, um die Jungen an die Gewohnheiten und Bräuche ihrer Vorfahren zu gewöhnen; sie gehörten ebenso zur Erziehung wie Ahnenkult und Religion.

Ansätze ionischen Denkens im modernen Ausdruckstanz

Mit dem Untergang der ionischen Kultur ging das umfassende Wissen von Tanz und Bewegung als Charakterschulung und Erziehungsmittel verloren. Erst in unserem Jahrhundert wurden in Tänzerkreisen Versuche unternommen, sich dieses Wissen wieder zu erschließen. Einzelne Ansätze davon finden sich im modernen Ausdruckstanz, in dem Bewegung als eine Sprache der Seele verstanden und gepflegt wird.

Vor allem Tänzerinnen und Tänzer wie Isadora Duncan (1878 bis 1927), Rudolf von Laban (1879 bis 1958) oder seine Schülerin Mary Wigman (1886 bis 1973) wirkten als Tanzpädagogen und setzten sich für die Idee ein, dass Ausdruckstanz ein wesentlicher Bestandteil einer Erziehung sein sollte. Besonders der in Bratislava geborene und 1938 nach England emigrierte Laban erkannte die Bedeutung des Tanzes für die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes und entwickelte für jedes Alter besondere Tanz- und Bewegungsformen:
»Beim Tanzen übt sich das Kind in der flüssigen Ausführung vieler Körperaktionen, die im praktischen Alltagsgeschehen vorkommen; so erhält es eine wertvolle Vorbereitung auf die verschiedenartige Beanspruchung seines Körpers im täglichen Leben….

Darüber hinaus gibt es im Tanz noch etwas, was in größere Tiefen reicht. Wie bei jeder künstlerischen Tätigkeit werden Lebenserfahrungen vermehrt, und zwar im Tanz durch die Konzentration auf bestimmte Rhythmen und Raumformen der Bewegung. Das Kind wird sich der Besonderheiten des Ausdrucks bewusst, und dies ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Klarheit und Genauigkeit aller Formen von Ausdruck und zwischenmenschlicher Kommunikation.«

Ähnlich wie die Griechen wenn auch bei weitem nicht so hochsinnig – glaubte Laban an den Einfluss von Körperbewegung auf die innere Haltung. In langer und intensiver Kleinarbeit untersuchte er die Grundimpulse von Bewegungen vom menschlichen Ausdruck und von der menschlichen Natur her und arbeitete eine Systematik der Bewegungsformen aus. Er kam zur Überzeugung, dass durch gezieltes Üben bestimmter Bewegungsabläufe persönlichen Schwächen entgegengewirkt oder Stärken gefördert werden könnten:

»Durch Beobachtung und Analyse der Bewegung kann der Pädagoge sich die notwendige Kompetenz aneignen, um den erzieherischen Wert von tänzerischer Bewegung und Tänzen einschätzen zu können. Er wird bald herausfinden, dass bestimmte Arten tänzerischer Bewegung dahin tendieren, angeborene und erworbene Mängel in der Zusammensetzung von Energiequalitäten zu verfestigen, andere hingegen die Möglichkeit bieten, eine disharmonische innere Einstellung auszugleichen und ein gesundes Wachstum der Persönlichkeit zu unterstützen.«

Wenn ein Kind beispielsweise ein eher schwerfälliges, lethargisches Bewegungsverhalten aufweist, könne ein Erzieher diesem entgegenwirken, indem er dem Kind Bewegungen zeigt, die Schnelligkeit verlangen:
»Man wird das Kind im Tanz die elementaren Antriebsaktionen Peitschen, Stoßen, Tupfen und Flattern erleben lassen, die Schnelligkeit entwickeln und durch das Hervorrufen einer ungewohnten Empfindung dem Kind helfen werden, seine Energiequellen auszubalancieren.«

Auch für Erwachsene könne Ausdruckstanz und Bewegungsschulung ein wirkungsvolles Mittel zur Korrektur geistiger Antriebe und Haltungen sein. Angenommen, ein Lehrer zeige in seinem Bewegungsverhalten vorwiegend leichte, zaudernde und vorsichtige Bewegungen, so werde er von der Klasse schnell als seiner selbst und seiner Sache nicht sicher eingestuft; denn Kinder hätten ein natürliches Wahrnehmungsvermögen für die Qualität von Antriebskräften und reagierten sehr schnell auf diese sichtbaren Anzeichen für die innere Verfassung des Lehrers. Der Lehrer könne nun aber lernen, seine Energiequalitäten so ausgewogen zu gebrauchen, dass sie den Bedürfnissen seiner Klasse angemessen seien.

Durch Üben von beispielsweise kraftvollen, raumgreifenden Bewegungen und eines festen, sicheren Auftretens usw. könne er Einfluss auf seine innere Haltung nehmen. Durch mehrfaches Wiederholen solcher Bewegungen könne er diese verinnerlichen und dadurch an Selbstsicherheit gewinnen. Zwar gebe es Bewegungsmuster, die so eingefleischt seien, dass es äußerst schwierig sei, sie abzuändern, zu erweitern und somit einen Wandel zu bewirken.

In der Regel könne man von einer schwachen, langsamen Person nicht erwarten, dass sie sich heroisch oder schnell gebe – es sei denn unter außergewöhnlichen Umständen -; aber man könne das gewohnte Antriebsspektrum sehr wohl ändern; die Vorbedingung dazu sei, dass man sich der eigenen inneren Haltung und der inneren Antriebe bewusst werde.
Die Auseinandersetzung mit Labans Schriften über die Kunst der Bewegung ist nicht nur für Tänzer und Pädagogen lohnenswert. Seine Arbeiten können eine Hilfe sein, zu den ionischen Vorstellungen von Tanz und Bewegung zurückzufinden. Laban ist übrigens der Begründer einer universalen Tanz- und Bewegungsschrift, die das Aufzeichnen aller Bewegungsabläufe ermöglicht und heute in der ganzen Welt von Fachleuten verwendet wird.

Durch Bewegung zu seelischem und körperlichem Wohlbefinden

In westlichen Gesellschaften ist die Beschäftigung mit der Macht und der Wirkkraft von Bewegung noch wenig verbreitet, anders in asiatischen Kulturen. Hier will man seit Jahrtausenden mit Bewegungsschulung die Harmonie mit der Natur und einem erdachten, allem zugrundeliegenden Urprinzip herstellen. In China beispielsweise kann man jeden Morgen auf öffentlichen Plätzen oder Parks Menschen sehen, die im Zeitlupentempo konzentriert und vertieft bestimmte Bewegungsübungen vollführen. Sanfte Bewegungsübungen, wie sie im sogenannten Tai Chi oder Qigong ausgeführt werden, sollen dem Menschen helfen, zu seelischem Gleichgewicht, innerer Harmonie und Lebensfreude zu finden.

Entspannung, Stärkung der geistigen Kräfte, Förderung von Kreativität und der Selbstheilungskräfte werden als Auswirkungen des Übens genannt.
In den letzten Jahren hat man in westlichen Ländern im Bereich der Alternativmedizin damit begonnen, sich mit asiatischen Übungsmethoden auseinanderzusetzen. Je nach Methode wird versucht, durch tanzähnliche Bewegungen oder harmonische Bewegungsabläufe dem Patienten verdrängte Gefühle bewusst zu machen und innere Spannungen oder Blockaden zu lösen.

Geradezu in Mode gekommen ist die Beschäftigung mit allerlei Arten von Bewegungstherapien in religiösen und pseudoreligiösen Kreisen, vor allem im Bereich der Esoterik.

In unzähligen Kursen werden heute die verschiedensten Formen von ‘meditativem Tanz’ und ähnlichem angeboten. Wie weit man sich hier allerdings umfassend und gründlich mit dem Thema auseinandersetzt, ob bloß einem Modetrend gefolgt wird oder ‘Bewegungstherapien’ sogar gezielt zur Manipulation von Menschen eingesetzt werden, bleibt von Fall zu Fall abzuklären.

Die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten, die Kraft von Bewegung zu nutzen, zeigen, wie lohnenswert und in bestimmten Situationen sogar notwendig es ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen.
Wem es gelingt, sich der inneren, seelischen Antriebe seines Bewegungsverhaltens bewusst zu werden, der erweist nicht nur sich selbst Gutes, sondern durch seine Körpersprache, die Ausdruck seiner Seele ist, lässt er auch seine Umwelt an seinem inneren Reichtum teilhaben.

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